Heft 2/2014: Schulbuch – Editorial

Editorial
von Maren Tribukait

Es ist mehr als ein Buch: Das Schulbuch ist eine Institution im Bildungssystem, ein Produkt politischer Entscheidungen, ein Anker für Lehrende und Lernende. Es strukturiert Wissen für Schüler in einer Form, die sie begreifen können, und unterstützt sie bei der Prüfungsvorbereitung. Für Lehrer übersetzt das Schulbuch das Curriculum und hilft bei der Planung des Unterrichts. Doch so nützlich sie auch sein mögen, wegen ihres hohen Geltungsanspruches und ihrer staatstragenden Funktion riefen und rufen Schulbücher viel Kritik hervor, die Impulse für die Entstehung der Schulbuchforschung gab. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich der Historiker und Ethnologe Georg Eckert um den Abbau von Feindbildern in Schulbüchern, indem er bilaterale Schulbuchgespräche organsierte, vergleichende Schulbuchanalysen anregte und sich für eine Erneuerung von Schulbüchern einsetzte. Das nach ihm benannte Institut in Braunschweig hat seit 1975 diese Arbeit fortgesetzt und fungiert heute als Knotenpunkt der internationalen Schulbuchforschung.

Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurden Schulbücher zur Pflichtlektüre – und waren vielerorts auch die einzigen (Sach-)Bücher, die Kinder gelesen haben.[1] Sie wurden meist unfreiwillig in die Hand genommen und dienten dennoch vielen als wichtigste Informationsquelle über die Welt außerhalb des eigenen Lebenskreises. Diesen privilegierten Zugang zu den Köpfen und Herzen der nachwachsenden Generation nutzten die Staaten seit dem 19. Jahrhundert zur nationalen Erziehung. Angesichts ihrer Reichweite gelten Schulbücher immer noch als Massenmedien,[2] allerdings hat sich ihr Status in der modernen Mediengesellschaft gewandelt. Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen und Internet bieten Kindern heute nicht nur viele Unterhaltungs-, sondern auch neue Informationsmöglichkeiten außerhalb der Schule. Das Schulbuch steht mit seinem Wahrheitsanspruch daher in Konkurrenz zu anderen Medien. Außerdem macht die Medienvielfalt vor den Klassenzimmern nicht Halt. Das Schulbuch ist in den letzten Jahrzehnten zusehends Teil eines Verbundes geworden, der aus Filmen, Hörtexten, interaktiven Lernspielen und anderen Medien bestehen kann.

Mit dem digitalen Umbruch der Medienwelt stehen wir nun an einem Punkt, an dem die Zukunft des Schulbuchs offen ist. In Deutschland sind die technischen Voraussetzungen in den Schulen für eine flächendeckende Nutzung digitaler Medien derzeit noch nicht gegeben und gedruckte Schulbücher genießen nach wie vor ein hohes Vertrauen.[3] In anderen Ländern lässt sich dagegen schon beobachten, wie Schüler mit digitalen Medien lernen. Beispielsweise sind im amerikanischen Bundesstaat Florida ab 2015 nur noch digitale Schulbücher zugelassen, und in Schwellen- und Entwicklungsländern wie Brasilien oder Peru statten One-Laptop-Per-Child-Programme benachteiligte Kinder mit kostengünstiger Hardware aus.[4] Hinkt das deutsche Schulwesen einfach nur den internationalen Trends hinterher? Gegen das Verschwinden des gedruckten Schulbuches spricht, dass neue Medien die alten meist nicht vollständig ersetzen, sondern nur bestimmte kommunikative Funktionen übernehmen und diese dabei verändern oder erweitern.[5] Vieles ist also möglich: Vielleicht lebt das gedruckte Schulbuch als Teil eines hybriden Medienverbundes weiter, vermutlich wird es digital transformiert, möglicherweise verschwindet es auch in der Form, die wir kennen.

Angesichts dieses tiefgreifenden medialen Wandels werden sich manche Fragen der Schulbuch- und Bildungsmedienforschung neu stellen. Das Schulbuch wird seit längerem als mehrdimensionales Medium verstanden.[6] Als Informatorium und Pädagogicum zieht es vor allem das Interesse von Didaktikern und Pädagogen auf sich, die seine Rolle in Lehr-/Lernprozessen erforschen. Während dabei seine instrumentelle Funktion im Vordergrund steht, konzentrieren sich Sozial-, Kultur-, Politikwissenschaftler und Historiker auf seine gesellschaftliche Bedeutung. Die staatlichen Steuerungsprozesse – etwa die Zulassungsverfahren – unterstreichen den Charakter des Schulbuchs als Politicum, an dem sich sowohl gesellschaftliche als auch internationale Konflikte entzünden. Wichtige Impulse gingen im letzten Jahrzehnt von Thomas Höhne aus, der auf den Konstruktionscharakter von Schulbuchwissen hingewiesen und die soziale und diskursive Herstellung von Objektivität und Wahrheit im Schulbuch analysiert hat.[7] Die Erkenntnis, dass Schulbuchwissen an einer Schnittstelle verschiedener Medien und gesellschaftlicher Diskurse steht, hat sowohl für das Verständnis der gesellschaftlichen als auch der instrumentellen Funktion des Schulbuchs Konsequenzen und provoziert zum Beispiel folgende Fragen: Welche Akteure und Institutionen bestimmen das Wissen, das in die Schulbücher gelangt? Welche Vorstellungen von Geschichte und Gegenwart werden konstruiert, welche Identitätsangebote gemacht? In welchem Verhältnis steht das Schulbuch zu anderen Medien? Wie lernen Schülerinnen und Schüler mit Schulbüchern, die immer ein selektives Wissen präsentieren? Und wie lässt sich die Gestaltung, aber auch der Gebrauch von Schulbücher verbessern, so dass Schülerinnen und Schüler kritisch mit dem Medium umgehen und seinen Inhalt nicht als abgeschlossene Wahrheit aufnehmen, sondern als Ausgangspunkt für weitere Fragen?

Dieses Schwerpunktheft beleuchtet einige Themen und Trends der Schulbuchforschung und -entwicklung. Der aktuelle Trend zur Digitalisierung regt zur Beschäftigung mit der Medialität des Schulbuches an, die in zwei Beiträgen reflektiert wird. Um sich die Spezifika des Mediums, aber auch seine Wandlungsfähigkeit vor Augen zu führen, lohnt ein Blick zurück in die Geschichte. Adam Fijałkowski stellt den Prototyp des modernen Schulbuchs, den Orbis pictus sensualium, vor. In seiner kompakten Form, die einen erstaunlichen Überblick über das damalige Weltwissen gab, erscheint es als innovative Erfindung, der ein großer Erfolg beschieden war. Gleichwohl macht Fijałkowski darauf aufmerksam, dass die neuartigen didaktischen Ideen des Autors Comenius schon in der zweiten Auflage verwässert wurden, um das Lehrwerk auf den Unterrichtsalltag abzustimmen. Die Passfähigkeit mit dem System Schule tritt hier als konstituierendes Element des Mediums hervor.

Lucia Halder reflektiert die Medialität des Schulbuchs in Hinblick auf die visuelle Ebene. Schon Comenius hob das Prinzip der Anschauung hervor und setzte es – gemessen an den damaligen Möglichkeiten – gekonnt um. Die Visual History hat aber in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass Bilder nicht nur eine kommunikative Funktionalität bieten, sondern auch emotionale Schlagkraft besitzen, mehrdeutige Botschaften transportieren und – wie Texte – Wissen und Narrative konstruieren. Sie tragen daher nicht zwingend zur Veranschaulichung eines Themas bei, sondern können auch Verwirrung stiften und untergründige Botschaften senden. Dieser Erkenntnis tragen neuere Ansätze der Schulbuchforschung Rechnung, die die Rolle von Bildern bei der Wissens- und Identitätskonstruktion in Geschichtsschulbüchern untersuchen. Dabei leisten sie auch einen Beitrag zur Diskussion um die Nutzung digitaler Medien in der Schule, da diese mit einer Stärkung der visuellen Ebene einhergehen.

Eine Momentaufnahme der derzeitigen Herausforderungen der Schulbuchentwicklung bieten zwei Gespräche mit Praktikern, die zwei entgegengesetzte Pole der Schulbuchproduktion repräsentieren. Geschichte, Gegenwart und Zukunft des klassischen Schulbuchs sind Thema eines Gesprächs mit Philipp Haußmann, dem Vorstandsvorsitzenden der Klett AG. Die Buchkultur, die im 16. Jahrhundert ihren Anfang nahm, hat hierzulande ein sehr hochwertiges Schulbuchwesen hervorgebracht. Die deutschen Schulbuchverlage verfügen, wie Haußmann ausführt, über jahrzehntelange Erfahrungen, um Lehrwerke zu entwickeln, die den Wünschen der Schüler und Lehrer gerecht werden, den Anforderungen der Lehrpläne entsprechen und anspruchsvolle neue Konzepte wie Kompetenzentwicklung in die Praxis umsetzen. Da Schulbücher aus seiner Sicht als Leitmedien des Unterrichts institutionellen Wert haben, verfolgen Schulbuchverlage die Strategie einer behutsamen digitalen Erweiterung und Transformation des klassischen Schulbuchs. Das Schulbuch der Zukunft wird sich nach Auffassung Philipp Haußmanns nicht grundlegend vom herkömmlichen unterscheiden, auch wenn es in gedruckter und digitaler Form vorliegt und von einem Kranz digitaler Produkte ergänzt wird.

Auch die Initiatoren des Projektes Schulbuch-O-Mat wollen an die Strukturen anschließen, in denen die Lehrer sich befinden. Daher haben Heiko Przyhodnik und Hans Hellfried Wedenig ein digitales lehrplankonformes Biologielehrwerk veröffentlicht, das erste kollaborative und freie Schulbuch in Deutschland. Bei dem Projekt geht es auch darum, die gewachsenen Strukturen der deutschen Bildungsmedienlandschaft in Frage zu stellen und zu zeigen, welches Potential freie digitale Medien für das schulische Lernen bieten. Ihre Vision eines Schulbuches der Zukunft ist ein individualisiertes digitales Werk, das sich Lehrer mit ihren Schülern gemeinsam aus einem freien, möglicherweise staatlich finanzierten Content erarbeiten und dann wieder anderen zur Verfügung stellen. Anders als Haußmann, der in der unzureichenden technischen Ausstattung der Schulen einen Grund für die Beharrungskraft des traditionellen Schulbuchs sieht, sind Przyhodnik und Wedenig davon überzeugt, dass in nicht allzu ferner Zukunft alle Schüler digitale Bildungsmedien auf ihrem eigenen mobilen Endgerät lesen werden.

Die politische Dimension des Schulbuchs rückt anhand von drei aktuellen Fragestellungen in den Fokus. Im Beitrag von Thomas Strobel geht es um die Herausforderung der Globalisierung für die historisch-politische Bildung. Zwar hat die geschlossene nationale Meistererzählung in deutschen Geschichtsbüchern schon seit einigen Jahrzehnten ausgedient. Sie wurde von einer problemorientierten, quellenstützten Präsentation abgelöst, die sich jedoch ebenfalls primär um Fragen von nationaler Brisanz drehte. Insofern beschreitet das deutsch-polnische Geschichtsbuch neue Wege, das von der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission angebahnt wurde und zur Zeit von einer binationalen Projektgruppe erarbeitet wird. Es verfolgt ein multiperspektivisches Konzept, das polnische und deutsche Geschichtsdeutungen, Narrative und Erinnerungskulturen offenlegt, einen Austausch darüber anregt und so die nationalen Erzählungen überwinden möchte.

Zrinka Štimac beschäftigt sich ebenfalls mit Folgen der Globalisierung, nämlich mit der Frage, inwieweit die zunehmende ethnische, kulturelle und religiöse Diversität in der deutschen Gesellschaft ein Umdenken in den Ethikfächern erfordert. In ihrem Beitrag kann sie zeigen, dass manche Ethikbücher den gesellschaftlichen Wandel noch nicht ausreichend reflektieren. Sie verstehen sich als Medien der Identitätsstiftung, was notwendigerweise zur Ausgrenzung anderer führen muss, die unter Umständen gerade im Klassenraum anwesend sind. Wenn Schule als Ort gesellschaftlicher Integration funktionieren soll, braucht es – so die Schlussfolgerung – ein anderes Verständnis des Schulbuches auch in diesen Fächern, die verschiedene Religionen gleichwertig und Religiosität mehrdimensional beleuchten müssten.

Der Beitrag von Zrinka Štimac steht in der Tradition der internationalen Schulbuchforschung des Georg-Eckert-Instituts, indem sie die Wissenskonstruktion in Schulbüchern analysiert und Ausschlüsse aufdeckt. Aus einer anderen Richtung kommend beschäftigt sich Michael Schikowski mit Ausschlüssen in Schulbüchern. Bei ihm geht um den literarischen Kanon, über den unter Germanisten, Deutschdidaktikern und -lehrern gerne gestritten wird. Die Frage, welche Rolle das Sachbuch im Schulbuch spielt beziehungsweise warum Deutschbücher diese Textgattung weitgehend ignorieren, lässt sich jedoch nicht mit dem Hinweis abtun, dass nicht jedem ästhetischen Geschmack genüge getan werden kann. Vielmehr verlangt sie die Reflektion der Kategorie Geschlecht im Deutschunterricht und verweist somit ebenfalls auf eine politische Dimension von Deutschbüchern. Da Deutschbücher in ihrem gegenwärtigen Zuschnitt Jungen nur selten einen Zugang zum Lesen eröffnen, sollte man ihnen einen alternativen Weg aufzeigen – mit Hilfe von Sachbüchern.

Beim Schulbuch handelt es sich um ein Sachbuch eigener Art, das sich durch Mehrdimensionalität, Multimodalität, Intermedialität und vor allem durch eine spezifische Funktionalität auszeichnet. Die Beiträge dieses Hefts zeigen, dass dem Schulbuch immer noch eine hohe Bedeutung zugemessen wird. Es ist zu erwarten, dass auch in Zukunft die Medien, mit Hilfe derer sich die heranwachsenden Generationen Wissen und Bildung aneignen sollen, Stoff für Auseinandersetzungen liefern werden – denn in ihnen kristallisiert sich das Selbstverständnis einer Gesellschaft. Die gegenwärtigen medialen, sozialen und kulturellen Dynamiken, die das Schulbuch erfassen, erzeugen neue Aufmerksamkeit für den Gegenstand und stellen insofern produktive Herausforderungen für Forschung und Praxis dar.

Maren Tribukait
Braunschweig, im November 2014


[1] Wolfgang Jacobmeyer: Das Schulgeschichtsbuch – Gedächtnis der Gesellschaft der Autobiographie der Nation? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26 (1988) 1/2, S. 26–25; Simone Lässig: Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext, in: Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht. Hrsg. von Eckhardt Fuchs, Joachim Kahlert und Uwe Sandfuchs. Bad Heilbrunn 2010, S. 199–215, S. 199.
[2] Gerd Stein: Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik. Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung. Kastellaun 1977, S. 1; Jacobmeyer: Schulgeschichtsbuch (Anm. 1), S. 27; Simone Lässig: Textbooks and Beyond. Educational Media in Context(s). In: Journal of Educational Media, Memory, and Society 1 (2009) 1, S. 1–20.
[3] Anika Bonitz: Digitale Schulbücher in Deutschland – ein Überblick. In: Digitale Bildungsmedien im Unterricht. Hrsg. von Eva Matthes, Sylvia Schütze und Werner Wiater. Bad Heilbrunn 2013, S. 127–138, S. 136; Bernd Schönemann/ Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis. Schwalbach/ Ts. 2010, S. 15; aufgeschlossen gegenüber dem digitalen Wandel: Waltraud Schreiber/ Florian Sochatzy/ Marcus Ventzke: Das multimediale Schulbuch – kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent. In: Waltraud Schreiber/ Alexander Schöner/ Florian Sochatzy: Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 212–232.
[4] Zu Florida http://www.edumeres.net/de/informationen/home/beitrag/article/ ab-2015-nur-noch-digitale-schulbuecher-in-florida.html; zu Peru und Brasilien vgl. die Seiten der Programme: http://one.laptop.org/stories/peru-learning-how- learn; http://www.fnde.gov.br/programas/programa-nacional-de-tecnologia- educacional-proinfo/proinfo-projeto-um-computador-por-aluno-uca – Stand 28. 10. 2014.
[5] Diese Beobachtung wird unter dem Begriff Rieplsches Gesetz in der Medienwissenschaft diskutiert.
[6] Nach Stein: Schulbuchwissen (Anm. 2), S. 1–11; ders., Schulbücher in berufsfeldbezogener Lehrerbildung und pädagogischer Praxis. In: Pädagogik. Handbuch für Studium und Praxis. Hrsg. von Leo Roth. München 2001, S. 839–847.
[7] Thomas Höhne, Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuchs. Frankfurt a. M. 2003; ders.: Über das Wissen in Schulbüchern – Elemente einer Theorie des Schulbuchs. In: Das Schulbuch zwischen Lehrplan und Unterrichtspraxis. Hrsg. von Eva Matthes und Carsten Heinze. Bad Heilbrunn 2005, S. 65–89.