Heft 1–2/2008: Recht sachlich – Editorial

Editorial
von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

Sachbuch und Belletristik, Fakt und Fiktion stehen sich nicht nur auf den Bestsellerlisten getrennt durch unüberschreitbare Grenzen gegenüber, auch vor Gericht begegnen sie sich regelmäßig unversöhnlich. Da wäre zunächst das Urheberrecht und die schon im 19. Jahrhundert gestellte Frage, ob die im Sachbuch dargestellte Sache überhaupt den gleichen Schutz als geistiges Eigentum beanspruchen könne wie die Fiktion. [1]

Spektakulär verhandelt wurde das in jüngerer Zeit bei Frank Schätzings Bestseller Der Schwarm (2004), für den einige Informationen, aber auch ganze Formulierungen wohl von Thomas Orthmanns Website »www.ozeane.de« bezogen wurden. Der Autor argumentierte dagegen, es habe sich nur um reine Sachinformationen gehandelt, die schon deshalb nicht urheberrechtlich geschützt sein könnten, da man sie auch anderswo habe recherchieren können. Letztlich kam es nicht zur Anklageerhebung, da sich nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft »Anhaltspunkte für eine gewerbsmäßige unerlaubte Verwendung urheberrechtlich geschützter Werke« nicht ergeben hätten. »Denn der Qualifikationstatbestand des gewerbsmäßigen Handelns setzt voraus, dass der Täter sich aus wiederholter Urheberrechtsverletzung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang verschaffen möchte.« [2]

Gegenstand eines veritablen Prozesses war dagegen Dan Browns Da Vinci Code (dt. Sakrileg, 2004), dem vorgeworfen wurde, er habe die »Struktur« seines Buchs aus einem seinerseits höchst spekulativen Sachbuch, Der heilige Gral und seine Erben (1984), übernommen. Auch hier entschied das Gericht, von einem Plagiat könne keine Rede sein, da es sich nur um eine »selektive Zahl von Tatsachen und Ideen« handele, die Brown bzw. seine Frau, die für ihn die Recherchen durchführte, aus dem Buch exzerpiert hätten. – Das Schreiben von Romanen, frohlockte man im Feuilleton allenthalben, bleibe also Kunst, was besonders im Falle Browns überrascht, dessen Bücher man vordem kaum als Kunst hatte bezeichnen wollen. [3]

Aber auch für Sachbücher wurde das Argument der gemeinfreien und damit vermeintlich »formlosen« kunstfernen reinen Sache ins Feld geführt. Schon C.W. Ceram betonte, man könne Götter, Gräber und Gelehrte (1949) allein deshalb nicht des Plagiats verdächtigen, da die Geschichte der Archäologie nicht einem Einzelnen gehören könne. Wenn Anne Terry White in ihrem im Original einige Jahre vor seinem erschienen Buch Lost Worlds (dt. Versunkene Kulturen, 1949) die gleiche Kapiteleinteilung verwende, den Gegenstand ebenfalls nach Regionen gliedere und weitgehend die gleichen Grabungen darstelle, zeige das nur, dass dies die der Sache einzig angemessene Darstellung sei. [4]

Gerne wird unter juristischer Beteiligung aber auch um Persönlichkeitsschutz vs. Kunstfreiheit gestritten, wobei es im Falle der Literatur regelmäßig auch um die Frage: Fakt oder Fiktion, Sachbuch oder Roman geht. Der juristische Klassiker in Deutschland ist zweifellos die Entscheidung zu Klaus Manns Mephisto, die bekanntlich mit einem leistungsgerechten Unentschieden endete, woraufhin der Roman (bis heute) verboten blieb, aber seit 1981 wieder frei verkauft wird. Dieser höchstrichterlichen Entscheidung und der jüngeren Variante, dem Fall Esra, nimmt sich Walter Grasnick in diesem Heft an. [5]

Plädierten hier Autoren und Verleger stets auf »Kunst« im Sinne der schon von Klaus Manns Vater in eigener Sache vertretenen Position, nach der im fiktionalen (Kunst-)Werk nach Fakten zu fragen schlicht mangelnden Kunstverstand verrate, geht es auch andersherum. Im Fall Binjamin Wilkomirskis, der sich in einer Autobiographie (Bruchstücke. Aus einer Kindheit, 1995) einer Kindheit in Konzentrationslagern und Waisenhäusern erinnerte, aber jahrzehntelang in der Schweiz als adoptierter Bruno Dössekker gelebt hatte, schaffte erst ein gerichtlich angeordneter DNS-Test endgültige Klarheit über die Identität des Autors. [6] Seinem Buch war man damit jedoch nur vermeintlich näher gekommen. Denn für die zur Lingua Franca der Narratologie avancierte strukturalistische Gattungstheorie liegt die Bedingung für das Vorliegen einer Autobiografie nicht in der Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Leben des Autors, sondern mit dem, was er dafür hält. Musste dieser Tatbestand nicht endgültig geklärt werden, da der Verlag das Buch seit 1999 nicht mehr vertreibt, wurde in einem anderen Fall, den Annett Gröschner vorstellt, im Sinne des Autors, Jörg Schröder, auf »Sachbuch« und gegen »Belletristik« entschieden. Weiterhin muss die VG Wort Schröder erzählt als Autobiografie mit dem Pauschalsatz für wissenschaftliche Texte vergüten.

Gelegentlich kommt es auch zum juristischen Streit über einzelne Inhalte in Sachbüchern, ohne dass damit gleich die Gattungszugehörigkeit als ganze zur Verhandlung stünde. Von den in jüngerer Zeit vor allem in den USA ausgetragenen Streitigkeiten über erdichtete Zutaten zur eigenen Biografie, die jeder Lebenslaufschreiber aus eigener Erfahrung kennen sollte, berichtete Erhard Schütz in einer früheren Ausgabe dieser Zeitschrift. [7] Hierzulande prominent debattiert wurde 2007 über Senait Menahri, die in ihrer Autobiografie Feuerherz (2004) als ehemalige Kindersoldatin gelten will. Nun sind einige der mitgeteilten »Fakten« vom Verlag widerrufen worden und das Buch ist nicht mehr im Handel. [8] Zwei Sachbüchern, denen zwar nicht die Fakten an sich, wohl aber deren Ermittlung und die Umstände ihrer Publikation zum Verhängnis wurden, widmet sich Manuel Günther. Günther Wallraff etwa konnte seinerzeit nur Teile seiner beim Axel-Springer-Verlag recherchierten Informationen veröffentlichen, da er unter einer falschen Identität in deren Besitz gekommen war, und der Kieler Staatsanwalt Heinrich Wille durfte seine Version der Ermittlungen im Fall Barschel nicht als selbständiges Sachbuch, sondern nur in der Schriftenreihe des schleswigholsteinischen Generalstaatsanwalts publizieren.

Viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregte in den letzten Jahren der Komplex Literatur und Recht, worunter, so Kaspar Renner in einem Literaturbericht, theoriegeschichtlich »law and literature«, »law in literature« oder »law as literature« verstanden werden kann. Notwendigerweise geht es dabei immer auch um das Verhältnis sachlich-faktualer zu literarisch-fiktionalen Texten und um die juristischen und literarischen Konventionen, die die Unterscheidung zwischen beiden ermöglichen oder gerade nicht ermöglichen. Dem Komplex Recht als Literatur widmet sich ausführlich Jürgen Joachimsthaler. Am Beispiel der Gerichtsrede, namentlich eines der populärsten Anwälte des Wilhelminischen Kaiserreichs, Max Bernstein, entwickelt Joachimsthaler die Grundzüge einer Poetik der Gattung innerhalb des juristischen Diskurses. Auch Aiko Onkens Beitrag, der die juristischen Wurzeln von Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie nachzeichnet, lässt sich in diesem Feld verorten. Den Spuren des Rechts in der Literatur geht Till Greite bei Thomas Bernhard nach, dessen frühe Gerichtsreportagen sich als Einflussgröße bis in den spezifisch bernhardschen Sound eines Romans wie Das Kalkwerk (1970) verfolgen lassen. Alexander Košenina veranschaulicht die mediale Umsetzung des Falls Haarmann von den Vernehmungsakten über die kulturgeschichtlichen Gerichtsreportage Theodor Lessings bis zum Film Der Totmacher (1995) und damit das Verhältnis zwischen Recht und Literatur bzw. Kunst.

Auch wenn das Recht im engeren Sinne, wie Martin Kiesow glossiert, als Sachbuch nicht vorkommt, existiert eine lange Tradition nichtfiktionaler Literatur juristischen Inhalts. Im Interview erläutert Sabine Rückert (Die Zeit), was die neuere Gerichtsreportage – namentlich in Buchform – von der oft als Vorbild herangezogenen der Weimarer Republik unterscheidet und Frank Lang (C.H. Beck) erklärt, wie man Rechtsratgeber produziert und verkauft.

Außerhalb des Schwerpunkts stellt Michael Schikowski »Bausteine einer Typologie« des Sachbuchs vor. – Alles in allem gute Gründe für Non Fiktion, sich mit einem Doppelheft dem »Recht sachlich« zu widmen.

Sehr froh sind wir zudem, Sie mit diesem Heft beim Wehrhahn-Verlag begrüßen zu dürfen, in dem Non Fiktion nun – noch schöner, noch besser und noch sachlicher – erscheinen wird.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Erhard Schütz: Aneigentümlichkeiten. Beobachtungen zum Plagiat in einer Kultur originaler Wiederholung. In: ›Die andere Stimme‹. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Hg. von Alexander Honold und Manuel Köppen. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 311-328.

[2] Vgl. http://www.ozeane.de/news/news2005/schwarm7.htm. Stand: 1. November 2008; Andy Hahnemann: »Footnotes are real«. Populäre Literatur als Medium der Wissensvermittlung. In: Non Fiktion 1 (2006) 2, S. 142-154, hier S. 144-146.

[3] Vgl. Plagiatsklage im Fall »Sakrileg« zurückgewiesen. In: Die Welt, 7. April 2006. http://www.welt.de/vermischtes/article209536/ Plagiatsklage_im_Fall_Sakrileg_zurueckgewiesen.html. Stand: 1. November 2008; Thomas Kielinger: Freispruch für die Literatur. Nach dem Londoner Dan-Brown-Urteil: Romane zu schreiben bleibt eine Kunst. In: Die Welt, 8. April 2006. http://www.welt.de/print-welt/article209448/Freispruch_fuer_die_Literatur.html. Stand: 1. November 2008.

[4] Diese Argumentation trägt Ceram als Reaktion auf einen Leserbrief in der Welt vor. Vgl. Paul Hans Bangert: [Leserbrief]. In: Die Welt, 5. September 1967. Die Reaktion Cerams befindet sich in seinem Nachlass in Privatbesitz.

[5] Vgl. dazu auch Remigius Bunia: Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 32 (2007) 2, S. 161-182; Christian Eichner und York-Gothart Mix: Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 32 (2007) 2, S. 183-227; Erhard Schütz: Creative Non-Fiction. Nichtfiktionale Lehren zum Sachbuch, Abteilung Memoiren. In: Non Fiktion 1 (2006) 2, S. 155-162

[6] Vgl. Stefan Mächler: Der Text zur Theorie. Der Fall Wilkomirski als hermeneutisches Lehrstück. In: Neue Zürcher Zeitung, 5. April 2002.

[7] Schütz: Creative Non-Fiction.

[8] Vgl. Hans Jürgen Jakobs und Sarah Ehrmann: Bestseller mit Brandschaden. In: Süddeutsche Zeitung, 18. April 2008. http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/368/169874. Stand: 1. November 2008.