Heft 2/2007: Sachbuch, kanonisch – Editorial

Editorial
von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

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Als die ZEIT 1982 ihre Bibliothek der 100 Sachbücher publizierte, gab es vor allem eins: „ein ungewöhnlich heftiges Echo“ und eine Menge Diskussionen. Mit Ralf Dahrendorf, Manfred Eigen, Theodor von Eschenburg, Wolf Lepenies, Golo Mann, Alexander Mitscherlich, Thomas von Randow und Uta Ranke-Heinemann hatte man gleich acht intellektuelle Schwergewichte beauftragt, einen Kanon zusammenzustellen, der sich – so pointierte es Fritz J. Raddatz in der Einleitung – dem Impuls verdankte:

Zwischen Dalli-Dalli und Dallas, zwischen der Erbärmlichkeit der politischen Sprache und der Ärmlichkeit des öffentlichen Denkens (= Tuns?), zwischen der Angst vor einer vernichtungsbereiten Technik und wohlfeil dargebotenen Ersatzgläubigkeiten wollten wir ein anderes Angebot auslegen. (S. 10)

Ein solch anderes Angebot hatte die ZEIT ihren Lesern bereits vier Jahre zuvor gemacht, als zur Frankfurter Buchmesse der 100-Bücher-Kanon aus der Abteilung Literatur präsentiert wurde. Das Buch der Bücher kam prompt auf die Bestsellerlisten, konnte sich dort einige Monate halten und wird auch heute noch aufgelegt. Debatten gab es bei diesem auf die Literatur bezogenen Kanonisierungsunternehmen zwar auch (vor allem im Ausland, wo misstrauisch die deutsche Perspektive auf die Literatur anderer Nationen beobachtet wurde). Allerdings fielen sie nicht so grundsätzlich aus wie bei der Erstellung eines Sachbuchkanons – stellte sich doch zuerst jene Grundsatzfrage, mit der konfrontiert wird, wer Sachbuchforschung betreibt: „Was ist ein ‚Sachbuch’?“ Und die zweite Frage war, was denn von dem, was man als Sachbuch definieren wollte, dann überhaupt kanonisierbar sei.

Fritz J. Raddatz hat anlässlich der Herausgabe der Bibliothek der 100 Sachbücher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Jury diese Fragen zwar spielerisch beantwortet, aber innerhalb des Spiels „als ernste Bemühung um Tradition“ verstanden hat, bei der es eben „beim Aperçu nicht bleiben“ kann. (S. 8) „Gibt es im Verhalten der Menschen zueinander Hergebrachtes, das sie – wenn schon nicht als verbindlich, dann doch – als gemeinsame Orientierung begreifen?“, so lautete eine der Schlüsselfragen, die man sich bei der Auswahl der Bücher stellen wollte. „Gibt es in der Fühlweise der Zeitgenossen einen – nein: nicht Codex, aber – Besinnungseffekt auf das bisher von Menschen Geleistete?“ (S. 9)

Die Antworten fielen so ernsthaft aus, wie die Fragen gestellt waren. Es geht 300 v. Chr. mit Euklids Die Elemente los und endet bei den Grenzen des Wachstums, vor denen der Club of Rome 1973 warnte. Dazwischen findet sich, was der abendländischen Geistesgeschichte entscheidende Impulse gegeben hat: Marc Aurel und Augustinus, Kopernikus und Machiavellì, Locke und Hobbes, Descartes und Pascal, Voltaire und Rousseau, Kant und Goethe, Hegel und Schopenhauer, Kierkegaard und Engels, Darwin und Nietzsche, Bismarck und Haeckel, Max Weber und Einstein, Freud und Heidegger, Sartre und Adorno, Chomsky und Habermas, Heisenberg und Rawls.

Man muss kein Kenner sein, um schon nach der ersten Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses zu wissen, dass hier nicht wenige Autoren und Titel gelistet sind, die außerhalb geisteswissenschaftlicher Seminare zu keiner Zeit viele Leser gefunden haben. Ausschlaggebend für die Aufnahme in den Kanon war eher eine überzeitliche Bedeutung, die nicht von Lesern, sondern von einigen Experten definiert wird, deren Spezialgebiet die abendländische Geistes- und Ideengeschichte ist. Ermittelt wird eben das, was die Jury den „Besinnungseffekt“ nennt und dem zeitgenössischen Leser helfen soll, Dalli-Dalli und Denver abzuschalten, sich an den seit Jahrtausenden fließenden Strom der wirklich großen Gedanken anzuschließen und das „Hergebrachte“ zur „gemeinsamen Orientierung“ zu nutzen.

So ist es kein Zufall, dass Bruno Bürgel, C.W. Ceram oder Erich von Däniken nicht den Hauch einer Chance hatten, in die engere Wahl zu kommen. Da hätte das Argument nicht geholfen, dass die Bücher dieser Autoren in den Jahren nach ihrem Erscheinen um ein Vielfaches häufiger verkauft, gelesen und diskutiert worden sind als Edmund Husserls Logische Untersuchungen, Norbert Wieners Kybernetik oder Noam Chomskys Sprache und Geist. Genauso wenig hätte der Hinweis genützt, dass Cerams Götter Gräber und Gelehrte ebenso wie Dänikens Erinnerungen an die Zukunft bis in die Gegenwart von ihren Verlegern als Longseller geschätzt werden, mit denen man weniger erfolgreiche Bücher querfinanzieren kann. Die Jury der ZEIT hätte auf diese Hinweise wohl geantwortet, dass weder eine erhöhte Verkaufszahl noch eine gesteigerte Rezeptionsintensität Hinweise auf das Vorhandensein eines „großen“ Gedankens geben, im Gegenteil eher auf sein Fehlen schließen lassen. Sachbücher, die Bestseller geworden sind, stehen in dieser Perspektive ganz grundsätzlich unter Verdacht, zu jener ephemeren Populärkultur zu gehören, von der man sich durch die Benennung des Überzeitlichen gerade absetzen will. Kanonisierbar jedenfalls erscheinen populäre Sachbücher nicht.

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Dass gerade populäre Sachbücher keine guten Karten haben, wenn es um Kanonisierung geht, hat aber nicht nur mit den  Struktur- und Funktionsbedingungen solcher Unternehmen zu tun. Es liegt auch am Genre selbst, das tatsächlich nicht auf Überzeitlichkeit und Besinnung angelegt ist – auch dann nicht, wenn einzelne Exemplare die Rhetorik des Überzeitlichen und Besinnlichen bemühen oder dezidiert die Überwindung einer alltagsverhafteten, auf Unterhaltung programmierten, von Flüchtigkeit faszinierten Kultur fordern. Populäre Sachbücher sind erfolgreich, wenn sie sich in der einen oder anderen Weise auf ihre jeweilige Gegenwart beziehen. In diesem Sinn sind sie Trendadapter und -katalysatoren. Sie nehmen aktuelle Themen und Stimmungen auf und übersetzen sie in größere Erzählformate. Dabei wird das jeweilige Thema so aufbereitet, dass es sich mit dem Leben des Lesers verbinden lässt. Populäre Sachbücher sind deshalb Jetztzeitbücher, weil sie immer jetzt gelesen werden wollen, um dem Leser für seine jetzige Situation etwas Wissenswertes und/oder Lernenswertes auf unterhaltsame Weise nahe zu bringen.

Folglich ist die Geschwindigkeit der Themenadaption in diesem Bereich besonders hoch. Auf Trends muss man eben schnell reagieren. Kein Zufall, dass man sich eng an den Journalismus hält, der die gegenwärtigen Entwicklungen seismographisch registriert, Themen identifiziert, Trends setzt und in Texte und Sendebeiträge überführt. Was im populären Sachbuch steht, ist niemals wirklich neu, sondern adaptiert: Es wird aufgenommen, erweitert, verbreitert und dabei mit anderen Diskursen verknüpft. Deshalb ist auch kein Zufall, dass Sachbücher als „parasitär“ bezeichnet worden sind. Eigenständig sind sie nur, insofern sie sich von Bestehendem nähren, das sie dann weiterbearbeiten.

Weil durch diese Strukturmechanismen neben der Adaptionsgeschwindigkeit auch die Produktionsgeschwindigkeit für populäre Sachbücher hoch gehalten werden muss, wird hier neben einem bestimmten Thementyp auch ein ganz besonderer Autorentyp bevorzugt: Der muss gegenwartsorientiert und trendbewusst sein. Er muss den Leser im Blick haben. Er darf weder im Hinblick auf die Recherche noch im Hinblick auf die Ausarbeitung skrupulös arbeiten. Er muss im Gegenteil ein abgeklärter Schnell- und Vielschreiber sein (oder die Anlage dazu haben), der seine Aufträge professionell erledigt. Dementsprechend ist es dann eben auch kein Zufall mehr, dass es vor allem die Journalisten und nur in seltenen Fällen die etablierten Wissenschaftler sind, die erfolgreiche populäre Sachbücher schreiben.

Die Texte, die von solchen Autoren geschrieben werden, schillern auf eigenartige Weise. Das populäre Sachbuch ist kein Fachbuch, in dem wissenschaftliche Ergebnisse nah an jener Komplexität abgehandelt werden, mit denen sie in hoch spezialisierten Forschungsdisziplinen entwickelt worden sind. Gleichwohl hat das populäre Sachbuch immer auch den Anspruch, Fachwissen zu recherchieren, aufzubereiten und so zu übersetzen, dass es Lesern verständlich wird, die keine Spezialisten sind. Das populäre Sachbuch ist aber auch kein Lehrbuch, in dem diese Übersetzungsleistung darauf angelegt ist, den Lesern prüfungs- oder praxisrelevantes Wissen zu vermitteln. Gleichwohl macht es immer den Eindruck, den Leser an einem Wissen teilhaben zu lassen, das man in einem ganz weiten Sinn als „lebensrelevant“ bezeichnen kann: Es muss eben etwas mit dem Leben des Lesers zu tun haben und ihm für die eigene Lebensführung irgendetwas anbieten, um sein Interesse zu wecken und ihn bei der Stange zu halten. Das aber erreicht das populäre Sachbuch nicht zuletzt dadurch, dass es seine Leser unterhält. Zwar ist es kein Krimi, kein Thriller, kein Abenteuerroman, kein Science Fiction, keine Liebesgeschichte, keine Familiensaga. Gleichwohl übernehmen Sachbücher gerade aus diesen literarischen Genres ihre Plotstrategien.

Sachbücher wollen also immer auch (mehr oder minder nachdrücklich) wissenschaftlich sein, aber keine Fachbücher; wollen immer auch anwendbares Wissen vermitteln, aber keine Lehrbücher sein; wollen wie Krimis oder Abenteuererzählungen unterhalten, aber weder Krimis noch Abenteuererzählungen sein. Nicht zu Unrecht sind Sachbücher als „Bastardliteratur“ bezeichnet worden: eigentümliche Zwitterwesen, die man nicht wirklich genau bestimmen kann, weil sie sich nicht an Grenzen halten und eher vom experimentellen Grenzübertritt leben.

Von diesem unberechenbaren Umgang mit Grenzen ist im Bereich des populären Sachbuchs auch der Umgang mit Wissen bestimmt. Während sich in der Scientific Community recht wirksame Instanzen zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen etabliert haben und während die Praktikabilität und Angemessenheit von Lehrbüchern im Unterricht und den Prüfungsordnungen der entsprechenden Bildungsinstitutionen kontrolliert wird, fällt für das Sachbuch jede Kontrolle aus. Zwar stellen in der Regel Verleger und Lektoren sicher, dass im Text nichts behauptet wird, was nicht stimmt, doch tun sie das vor allem im Hinblick auf mögliche Falschaussagen, die Personen oder Institutionen betreffen, die den Verkauf des Buches stoppen könnten. Ob aber das, was im Sachbuch behauptet wird, tatsächlich richtig ist, ob es mit der wissenschaftlichen Lehrmeinung übereinstimmt, ob es wirklich up to date oder sogar das Allerneueste ist, ob es an allen Stellen tief und umfassend recherchiert und zutreffend formuliert ist, wird meist nicht geprüft. Im Gegenteil lebt das populäre Sachbuch in der Regel davon, nicht mit der gängigen Meinung etablierter Wissenschaftler deckungsgleich zu sein. Zwar lassen sich bis in die sechziger Jahre hinein Sachbücher finden, auf deren Umschlag der Autor mit einem „Dr.“ oder „Prof.“ genannt wird. Doch passiert das meist bei jenen Texten, die ins Ratgeberfach hineinreichen und dementsprechend den Rat des Autors mit der Aura anerkannter Wissenschaft versehen. Bei vielen anderen populären Sachbüchern gilt: keine akademischen Titel nennen! Hier werden die Paratexte eher genutzt, um im Gegenteil dem jeweiligen Text zu bescheinigen, anti-, neben-, über- oder hyperwissenschaftlich zu sein und gerade deshalb einen unverstellten Blick auf die Wirklichkeit und einen unmittelbareren Zugriff auf die Wahrheit zu haben.

Diese Ausrichtung auf  Anti-, Neben-, Über- oder Hyperwissenschaftlichkeit hat zur Konsequenz, dass im populären Sachbuch unkontrolliert wildes Wissen wuchert. Zwar sind die Sachbuchautoren Experten für ihr jeweiliges Thema. Doch leben die Bücher zugleich davon, dass in ihnen immer auch viel gemeint, geahnt, geglaubt, vermutet, aber dennoch in starken Behauptungen vorgeführt wird. Gestärkt werden diese Behauptungen zum einen durch den Verweis auf persönliche Erfahrungen und Recherchen des Autors. Zum anderen werden sie gestärkt von dem, was aus anderen Büchern – zumeist Sachbüchern! – abgeschrieben, paraphrasiert, montiert, übersetzt, weitergesponnen, auf jeden Fall mehr oder weniger unkommentiert integriert wird.

Wissensvermittlung findet hier also gerade nicht einem alten Ideal der Aufklärung nach linear von ‚komplex’ zu ‚einfach’ statt. Und schon gar nicht findet sie so statt, dass auf jeder Vermittlungsstufe sichergestellt wäre, dass das ‚Komplexe’ auch ‚angemessen’ ‚vereinfacht’ wird. Das wilde Wissen wuchert im populären Sachbuch auch deshalb so wild, weil es sich von den Wucherungen des wilden Wissens anderer nährt und sich auf diese Weise mit Energien versorgt, die dann für weitere Wucherungen, also für weitere Bearbeitungen und Transformationen zur Verfügung stehen.

So wild treiben es aber nicht nur die Produzenten. Die Rezipienten stehen ihnen in nichts nach. Während Fachbücher und Lehrbücher ihre Leser über Form und Inhalt gleichermaßen kontrollieren, ist das populäre Sachbuch darauf angelegt, das wilde Wissen für weitere Wucherungen in Umlauf zu bringen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Leser populärer Sachbücher eben keine Spezialisten sind. Sie nutzen stattdessen die Lektüre dafür, sich mit einer bestimmten Form des Halb-, Viertel-, Zehntel- oder Hundertstelwissen zu versorgen, das in die eigenen lebensweltlichen Zusammenhänge – und sei es auch nur der Smalltalk auf der Party oder das gute Gefühl, über dieses oder jenes Thema Bescheid zu wissen – eingespeist und dafür dann entsprechend angepasst wird. Weil das so ist, werden populäre Sachbücher von Lesern auch dann nicht nachgefragt, wenn es um die präzise Beschreibung konkreter Konfliktlagen oder um die Formulierung komplexer Lösung für konkrete Probleme geht. Besonders erfolgreich sind sie dann, wenn sie beim Leser auf bestimmte Stimmungslagen treffen, auf diffuse Problemhorizonte und auf ungenaue Fragestellungen. Und nicht zuletzt sind sie erfolgreich, wenn sich allgemein der Eindruck durchsetzt bzw. zur Zeit des Erscheinens des Sachbuchs bereits durchgesetzt hat, dass man zu diesem oder jenem Thema etwas wissen, vielleicht auch etwas sagen muss, wenn das Gespräch darauf kommt. Wer die Erfolgsbedingungen populärer Sachbücher bestimmen will, sollte sich dementsprechend immer auch über die Struktur- und Ablaufgesetze von Trends, Moden und Epidemien informieren.

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Wie sollte sich nun so ein „parasitärer“, auf die Wucherung von „wildem Wissen“ ausgerichteter „Bastard“ überhaupt kanonisieren lassen? Im Falle des populären Sachbuchs machen es der spezifische Texttyp, Autorentyp, Produktionstyp und Rezeptionstyp je für sich und zusammen tatsächlich schwer, eine Reihe von überzeitlich gültigen Werken zusammenzustellen, die – wie es die Sachbuchjury der ZEIT gefordert hat - genügend „Besinnungseffekte auf das bisher vom Menschen Geleistete“ erzielen. Erschwerend kommt hinzu, dass die genannten Typen selbst nie in Reinform auftreten, sondern sich von Fall zu Fall soweit auf ganz verschiedenen Levels ausdifferenzieren und kombinieren, dass man ohnehin nur mit heuristischer Emphase von dem Sachbuch oder gar dem populären Sachbuch sprechen kann.

Wenn wir für die vorliegende Ausgabe von Non Fiktion dennoch eine Liste von 50 Sachbüchern aus dem letzten Jahrhundert zusammengestellt haben, von denen wir meinen, dass sie durchaus die Grundlage für einen Kanon bilden, dann nicht, weil wir glauben, vom „Parasitären“ das womöglich „Selbstständigste“, von den „Bastarden“ womöglich die „Reinsten“ und von den „Wildesten“ womöglich die „Zahmsten“ herausgesucht zu haben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Insofern wir uns an die erfolgreichen und aufgrund ihres Erfolgs auch einflussreichen Sachbücher halten, erscheinen in unserer Liste einige Titel, von denen man vielleicht glaubt, dass man sie zu Recht vergessen hat oder sie zumindest nicht zur Kenntnis zu nehmen braucht. Wir gehen nämlich davon aus, dass es vor allem diese Titel sind, die nicht nur das Genre Sachbuch am nachdrücklichsten geprägt haben. Wir gehen auch davon aus, dass sich diese Titel für die Zeit, in der sie so erfolgreich waren, als kultursymptomatische Texte lesen lassen. Mehr noch: Gerade weil sie ihre Zeit so stark prägten, haben sie dabei mitgewirkt, entscheidende Weichen für Anschlussdiskurse zu stellen. Und sie haben so ganz untergründig bis in die Gegenwart gewirkt, dass man nun doch behaupten kann, man hat es hier mit Werken zu tun, denen im eigentlichen Sinn etwas Überzeitliches zukommt.

Das aber heißt: Gerade weil sie in der Gegenwart für die Gegenwart geschrieben worden sind, gerade weil die Autoren dafür jeweils aktuelle Stimmungs- und Problemlagen aufgenommen haben, gerade weil sie dafür verschiedene Diskurse der jeweiligen Gegenwart auf unkontrollierte Weise verknüpft und auf überraschende Weise weitergetrieben haben und gerade weil sie dafür Leser gefunden haben, die das Ergebnis dieser Verknüpfungen mit den eigenen Stimmungs- und Problemlagen verknüpfen konnten, erscheinen diese Texte als Dokumente, die nicht nur Auskunft über den jeweiligen state of the art des Sachbuchs, sondern darüber hinaus wichtige Anhaltspunkte für die Rekonstruktion einer Mentalitätsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts geben. Mit anderen Worten: Gerade das, was diese Bücher eigentlich aus jedem Kanon ausschließt, der auf Besinnung und auf höhere Bildung aus ist, prädestiniert sie aus unserer Perspektive für einen Kanon, der sich auf das Prinzip ‚Sachbuch’ einlässt.

Dass dabei die konkrete Auswahl von 50 Titeln Unschärfen, Lücken, vielleicht auch echte Fehlgriffe enthält, dass hier hin und wieder Äpfel neben Birnen stehen, liegt auf der Hand. Wenn es um die literaturhistorische Rekonstruktion des state of the art des Sachbuchs und zugleich um die kulturwissenschaftliche Rekonstruktion einer Mentalitätsgeschichte gehen soll, können erst einmal nur Stichproben genommen werden, an denen sich fallweise mal eher das eine, mal eher das andere und nur im Glücksfall immer gleich beides zusammen besonders gut bestimmen lässt. Ohnehin ist klar, dass hier ein offenes Ensemble vorgelegt wird, dessen eigentlicher Sinn darin besteht, Punkte zu markieren, an denen man sich bei der Weiterentwicklung eines Sachbuchkanons für das 20. Jahrhundert orientieren kann. Wir überlegen selbst, in welchen Schritten man diesen Kanon weiter bearbeiten müsste, um ihn präziser zu machen:  So müsste der Kanon unbedingt um erfolgreiche Sachbuch-Titel von ausländischen Autoren erweitert werden, die ins Deutsche übersetzt worden sind. Darüber hinaus müsste man Listen entwickeln, in denen die Konjunkturen einzelner Themen im Querschnitt zu analysieren wären. Nicht zuletzt könnte man einen Kanon der wichtigen und einflussreichen Sachbuch-Reihen erstellen, die je für sich bereits bestimmte Themen, Autoren und  Schreibweisen bündeln. Bei so viel Kanonisierung darf man dann allerdings vor allem eine Aufgabe nicht vergessen: dass für einzelne Titel und Autoren umfangreichere Studien betrieben werden müssen, die auf komplexe Weise (und das heißt dann immer auch empirisch) die jeweiligen Einflusssphären rekonstruiert – also die Stimmungs- und Problemlagen, die ein Sachbuch auf spezifische Weise aufnimmt, und die Stimmungs- und Problemlagen, die es selbst mit formiert.

Angesichts dieser Aufgaben bleibt die hier vorgelegte Sammlung also notwendig Stückwerk. In diesem Sinn ist auch unser Kanonisierungsunternehmen ähnlich wie das, das von der Jury der ZEIT betrieben worden ist, vor allem ein Spiel. Gleichwohl ist es ein Gesellschafts- oder Kulturspiel, das dann doch den Ernst nicht (ver-)kennen will, der auf letzte Menschheitsfragen zielt. Vielleicht weil auf diesen letzten Ernst verzichtet wurde, haben sich die Autoren der vorliegenden Ausgabe auf unser Spiel eingelassen, ohne die gesamte Liste zu kennen und ohne (erst einmal) mit uns über die einzelnen Listenplätze streiten zu wollen. Dafür danken wir ihnen sehr herzlich, ebenso wie wir Annett Gröschner und Andy Hahnemann danken, die an der Vorbereitung der Liste beteiligt waren, und nicht zuletzt auch Rainer Rutz, der die vorliegende Ausgabe redaktionell betreut hat.

David Oels, Stephan Porombka, Erhard Schütz
Berlin und Hildesheim, im Dezember 2007