Heft 2/2006: DokuFiction – Editorial

Editorial
von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

Im nächsten Herbst realisier ich ein tolles Projekt mit einer zweiundzwanzigjährigen Debütantin. Deren Oma war Aufseherin in einem KZ, und mit der hat die Enkelin vor ihrem Tod Interviews geführt und auf Tonband aufgezeichnet, und diese Interviews hat sie, haben wir gemeinsam, jetzt bearbeitet. Das läuft dann in der Rubrik Dokufiktion. Startauflage 30 000 bis 40 000, mindestens.[1]

Das berichtet Ralf Scholz, Verlagsleiter bei Lindbrunn in Frankfurt am Main, seinem wenig erfolgreichen Autor Lukas Domcik. Zuvor hatte Scholz bereits ein Buch über die Vogelgrippe angeregt:

Epidemien sind immer gut, Pandemien noch besser. Oder Umwelt und Naturkatastrophen. Tsunamis, globale Erwärmung, Erdbeben, die ganze Palette. Als Thriller natürlich. Mit Verschwörungstheorie und allen Schikanen. So, wie dieser Schätzing es mit Der Schwarm gemacht hat. Oder Ken – [2]

Doch Domcik will nicht. Dann könne er, Domcik, aber doch zumindest „mal einen historischen Roman schreiben, so einen richtigen Schmöker. [...] Reale, aber möglichst dramatische Hintergründe. Liebe und Intrige als Sahnehäubchen.“[3] Sein neues Manuskript indes erzählt unter dem viel versprechenden Titel „Der König von Elba“ nur die Geschichte eines alternden Studienrats, der jede verfügbare Minute in seinem Ferienhaus auf der italienischen Insel verbringt. „[W]itzig, satirisch, ironisch und unterhaltsam“ zwar, aber die „Leute haben das Gefühl, daß sie lange genug verarscht worden sind [...]. Sie wollen wieder ernst genommen werden. Schluß mit lustig. Ende der Spaßgesellschaft.“[4] Domcik mag dabei nicht mittun, obgleich er ahnt, dass Scholz recht hat – erst auf der Zugfahrt hatte schließlich eine äußerst attraktive Bahnbekanntschaft nicht etwa seinen neuesten Roman, sondern „ein Buch von Guido Knopp mit dem Titel Die Frauen des Führers oder so ähnlich“ gelesen.[5]

Für Scholz’ Diagnose sprechen noch weitere Indizien. Mit Daniel Kehlmann (Die Vermessung der Welt. Roman. Reinbek 2005) schreibt nun ein deutschsprachiger Autor eine feine, intelligente und vor allem sachgesättigte Prosa, wie man sie vordem allenfalls Umberto Eco zugetraut hätte und führt damit wochenlang die Bestsellerlisten an. Der Beck- Verlag publiziert seit einigen Jahren immer wieder Bücher, die explizit zweimal in den Verlagsvorschauen angekündigt werden, als Roman und als Sachbuch: Jean Pierre Luminets Alexandria 642.Roman des antiken Weltwissens (München 2003) und vom selben Autor Rendezvous mit Venus oder: Die Liebe zur Astronomie (München 2005), Ursula Naumanns Euphrat Queen. Eine Reise ins Paradies(München 2006). Allesamt Bücher mit deutlichen Merkmalen der Fiktion, deren darüber hinausgehender Wert als sachliches Informatorium mit dieser Verlagsstrategie hervorgehoben werden soll.

Andere Titel werden als Literatur vermarktet, obgleich es sich nach allen etablierten Konventionen um Sachbücher handelt, etwa Sybille Bergs Anthologie Und ich dachte, es sei Liebe. Abschiedsbriefe von Frauen (Stuttgart 2006). Einige Bücher werden vermutlich nur wegen solcher Cross-Over-Vermarktung zum Bestseller. Bei Wolfgang Büschers Deutschland. Eine Reise (Berlin 2005) handelt es sich um eine Reisereportage und damit um geradezu klassische Non-Fiktion, doch erhält das Buch mit dem Labeling als „Literatur“ sein Alleinstellungsmerkmal. Und auch Lars Brandts Erinnerungen an seinen Vater (Andenken. München 2006) hat der Verlag – erfolgreich – als Belletristik-Spitzentitel in den Handel gebracht. In diesem Bücherherbst ist Beim Häuten der Zwiebel (Göttingen 2006) von Günter Grass, das als Autobiographie ebenfalls zur nicht-fiktionalen Literatur zählt, auf der linken, der belletristischen Seite der Spiegel-Bestsellerliste zu finden. Ob es sich dabei um eine strategische Entscheidung des Verlages oder um eine reine Schutzmaßnahme handelt, die künftigen Investigationen zuvor kommen will, muss die Zeit zeigen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass mit Frank McCourts Tag und Nacht und auch im Sommer (dt. München 2006) ebenfalls Erinnerungen eines Schriftstellers im Spiegel listennotiert sind, nur eben auf der rechten, der richtigen Seite.[6]

Diese Aufweichung der Kategorien ist indes nicht mehr nur eine Sache von Marktstrategien. Mittlerweile muss sich die Justiz mit Fällen auseinandersetzen, in denen die schöne Literatur auf ihre Tatsachen hin befragt wird. Allen voran der Fall Esra, ein Roman von Maxim Biller, der verboten bleibt, weil die frühere Lebensgefährtin und deren Mutter sich darin allzu unfreundlich dargestellt finden. Aber auch Frank Schätzing, der seinen bereits erwähnten Roman Der Schwarm (Köln 2004) genauso gegen den Vorwurf verteidigen musste, er habe einfach aus fremden Quellen abgeschrieben, wie Michael Crichton seinen Bestseller Welt in Angst (dt. München 2004). Dass in beiden letzteren Fällen für die Autoren entschieden wurde, kann nicht verdecken, dass jener Kunstvorbehalt, der die Literatur gegen den Zugriff auf die in ihr mitgeteilten Fakten schützte, nicht mehr per se gilt. Wenn einerseits die Faktisierung der Literatur verkaufsfördernd zu sein scheint, so gilt andererseits in der Diskussion, die die Wissenspopularisierung und -verbreitung seit jeher begleitet, gerade die Literarisierung der Fakten als marktförmige Verfälschung. Von engagierten Pädagogen des 19. Jahrhunderts[7] über Hans Magnus Enzensberger, der 1960 meinte, „der romanhafte Aspekt“ der „sogenannten Sachbücher“ lenke stets „von der Sache ab“[8] wird bis heute dieser Vorwurf erhoben. Obgleich der dahinter stehende Gedanke einer ungeformten oder der Sache (meist der Wissenschaft) zumindest unmittelbar zukommenden Form, ebenfalls immer schon unterkomplex war.[9]

Wer sich nun von der Literaturwissenschaft erhofft, wenigstens hier werde noch sauber zwischen Fakt und Fiktion geschieden, wird nicht weniger enttäuscht. Nicht nur, dass die Forschungen zur Fiktionalität selbstredend vielfältig sind. Postmoderne Panfiktionalität nach Lyotard und Feyerabend oder gegenteilige Positionen, die mit Käthe Hamburger meinen, die Fiktionalität eines Textes an mehr oder weniger textinternen Merkmalen zweifelsfrei bestimmen zu können, kommen zunehmend aus der Mode. Durchzusetzen scheint sich in den letzten Jahren eine pragmatische Position, die zwar textinterne Fiktionalitätsindizien zulässt, tatsächliche Beweise aber nur im Zusammenspiel des ganzen paratextuellen Ensembles von der Gattungsbezeichnung auf dem Einband über Erklärungen des Verlags und Aussagen des Autors bis zu Rezensionen, literaturwissenschaftlichen Untersuchungen akzeptiert.[10] Daraus folgt dann freilich erstens, dass die Fiktionalität eines Buches historisch und kulturell relativ ist, und zweitens dass zwischen Fakt und Fiktion ein recht großer unbestimmter Bereich zugelassen wird, in dem sich genau jene hybriden Gebilde tummeln, die es eigentlich zu kategorisieren galt.

Dass es so einfach nicht ist, muss schließlich auch der Leser von Klaus Modicks Roman Bestseller erkennen, in dem sich das eingangs zitierte Gespräch zwischen Autor und Lektor findet. Denn nicht nur, dass sich Domcik im weiteren Verlauf als Ghostwirter an die Abfassung einer Doku-Fiktion macht und dafür seine streng nationalsozialistische Tante zur unterdrückten Widerständlerin umdichtet. Auch hat dem alternden Studienrat in seinem Roman „König von Elba“ ein Bibliothekar mit Ferienhaus in der Toskana Pate gestanden hat, von dem Domcik nun befürchtet „wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte“ verklagt zu werden.[11] Dass der Ich-Erzähler Lukas Domcik, der bei Lindbrunn publiziert, mit dem Autor Klaus Modick, der das bei Eichborn tut, vielleicht noch einiges mehr gemein hat als die Buchstaben im Namen, wird zumindest nahegelegt. Vollends heikel wird die ganze Sache, bedenkt man, dass der Autor Michael Kleeberg 2004 tatsächlich einen historischen Roman, wenn auch mit dem Titel Der König von Korsika, veröffentlicht hat…

Jedenfalls scheint es, als ob die Buchbranche derzeit nachholt, was in anderen Medien, den audiovisuellen zumal, seit einigen Jahren zu beobachten ist. Big Brother oder Longseller wie 24 Stunden Toto & Harry – Die Zwei vom Polizeirevier, der verbreitete Exhibitionismus in Talkshows und anderen Formaten, die mit dem Nimbus auftreten, hier werde die ungeschminkte Wirklichkeit gezeigt oder zumindest vorgeführt, mit echten Meinungen, echten Gefühlen von echten Menschen, und diversen aus den USA importierten Reality-Shows haben die Kommentatoren vor einigen Jahren zu vehementen medienkritischen Invektiven gereizt. Ohne freilich etwas daran ändern zu können. Wenn dieser Trend nun auch die Literatur, oder neutraler: das Buch ergreift, ist das einerseits selbstredend ein vergleichsweise unbedeutender Nebenschauplatz. Andererseits ergibt sich damit aber die Möglichkeit, offenbar zentrale kulturelle Entwicklungen in den Blick zu nehmen, ohne sofort dem kulturkritischen Reflex zu verfallen – geht es doch immerhin um das unbestrittene Kulturgut Buch. Zweifellos steht eine neuerliche Diskussion des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit, Dokument und Fiktion, Sachbuch und Belletristik an, an der sich die in diesem Heft versammelten Beiträge beteiligen.

Anmerkungen: 
1 Klaus Modick: Bestseller. Roman, Frankfurt am Main 2006, S. 75.
2 Ebd., S. 72.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 70f.
5 Ebd., S. 26.
6 Vgl. Der Spiegel vom 9.10.2006, S. 190.
7 Vgl. Ulf Diederichs: Annäherungen an das Sachbuch. Zur Geschichte und Definition eines umstrittenen Begriffs, in: Die deutschsprachige Sachliteratur, hrg. v. Rudolf Radler, München/Zürich 1978, S. 1-37, hier S. 17f.
8 Hans Magnus Enzensberger: Muß Wissenschaft Abrakadabra sein? in: Die Zeit vom 5.2.1960
9 Vgl. weiterführend dazu: Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, hrg. v. Carsten Kretschmann, Berlin 2003.
10 Vgl. Irmgard Nickel-Bacon/Norbert Groeben/Margrit Schreier: Fiktionssignale pragmatisch. Ein medienübergreifendes Modell zur Unterscheidung von Fiktion(en) und Realität( en), in: Poetica 32 (2000), S. 267-299.
11 Modick: Bestseller (wie Anm. 1), S. 130.