Heft 1/2017: Faktualität und Fiktionalität (Editorial)

Editorial

Vordergründig scheint doch alles recht einfach zu sein: Es gibt Dinge, die in der realen Welt sind (oder waren), also Fakten. Und es gibt Dinge, die nicht in der realen Welt sind (oder waren), die eben keine Fakten, sondern fiktiv sind; eine terminologisch brauchbare Nominalform fehlt im Deutschen. Werden diese fiktiven Dinge nun in eine narrative (Handlungs-)Beschreibung überführt, die selbst bis zu einem nicht exakt bestimmbaren Grad von den Handlungsgeschehen in der realen Welt abweicht, ist diese Handlungsbeschreibung fiktional. Faktualität, Fiktivität, Fiktionalität. Noch Fragen?

Ja!

Denn sobald man sich den Texten selbst annähert, zeigt sich, dass das Verhältnis von Faktualität und Fiktionalität vielschichtig, komplex und in hohem Maße abhängig von den bewussten und unbewussten Vorentscheidungen ist, die man über die reale Welt und über den Status von Texten in dieser Welt trifft. Dies zeigt etwa Conrad Gesner Mitte des 16. Jahrhunderts publizierte Enzyklopädie Historia animalium. Im ersten Buch dieses Tierlexikons – über lebendgebärende Vierfüßler; de Quadrupedibus viviparis (1551) – findet sich ein zumindest aus heutiger Sicht recht überraschender Eintrag. Gesner folgt mit seiner Enzyklopädie – die er mit ziemlicher Sicherheit nicht als fiktionales Werk verstand – der zeitgenössischen Auffassung, dass das im Alten Testament häufig erwähnte hebräische Wort Re’em „Einhorn“ bedeutet (u. a. in Hiob 39,9–12 der Lutherbibel). Tatsächlich wies erst spät im 18. Jahrhundert Heinrich Sander den Übersetzungsfehler nach und vermutete, dass „man in allen Stellen der Bibel, wo Luther und andere an das Einhorn denken, kein anderes Thier, als eine Ochsenart verstehen muß“. Gesners Verständnis der Bibel als vertrauenswürdige Quelle historischer Tiere verdeutlicht uns heute, dass nicht nur die Grenzen von Faktualität und Fiktionalität instabil sind, sondern auch das, was überhaupt als Faktum zu gelten hat.

Grenzziehungs- und Bestimmungsprobleme dieser und ähnlicher Art werden in den Beiträgen dieses Heftes markiert. Sie zeigen anhang unterschiedlicher Objektbereiche auf, dass die eingangs vorgeführte reduktionistische Verhältnisbestimmung nicht haltbar ist angesichts der Vielfalt literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstände. So beziehen sich die Argumente der Beiträger – gemäß der Reihenfolge ihres Abdrucks – im Rückgriff auf ethisch-moralische, juristische, poetologische, forschungslogische, gattungsästhetische und epistemologische Kategorien auf Beispiele, die sich eben nicht verlustfrei als Fakt oder Fiktion rubrizieren lassen möchten: Wie etwa lässt sich der agonale, aber ästhetisch-fiktional vermittelte Welt- und Wirklichkeitsbezug von Karikaturen und Satiren Beschreiben (Andrea Albrecht)? Wo liegen die moralischen und rechtlichen Grenzen der Fiktion, wenn diese auf Menschen in der realen Welt Bezug nimmt und diese Menschen dort, nicht aber in der Fiktion, von klar definierten Gesetzen geschützt werden (Johannes Franzen)? Wie können Autoren in ihren und mit ihren Romanen gewissermaßen poetologisch zeigen, dass die darin handelnden fiktiven Figuren durchaus Einfluss auf reale Leser nehmen sollen (Olaf Kramer)? Wie etwa legitimiert die Historiographie ihre Aussagen über historische Fakten, wenn sie diese teilweise auf Grundlafe künstlerischer Artefakte wie literarische Texte, Statuen oder Gemälde generieren muss (Jan Borkowski)? Welche Funktion haben reale und aus der realen Lebenswelt bekannte Dokumente, die Autoren als Provokation gängiger Fiktionstheorien in ihre fiktionalen Texte implementieren (Dirk Werle)? Und nicht zuletzt: Welche Funktionen können Medien, die wie die Fotographie klassischerweise als ‚realitätsabbildend‘ verstanden werden, in fiktionalen Welten übernehmen (Marcus Willand)?

Diese Studien vorbereitend sollen noch einmal die Einflussbereiche des Faktischen auf fiktionale Texte und – in umgekehrter Stoßrichtung – Einflussbereiche des Fiktiven bzw. Fiktionalen auf faktuale Texte anhand konkreter Beispiele aufgezeigt werden. So lassen sich durchaus fiktive Dinge in Texten nachweisen, die dem (wie im Falle Gesners enzyklopädischen) Anspruch nach ausschließlich Fakten enthalten sollten. Genau in diesem Sinne gelten Käte Hamburgers Fiktionalitätssignale bis heute zwar als gutes Indiz, keinesfalls aber als hinreichendes Kriterium zur Identifikation des fiktionalen oder faktualen Status eines Textes.

Noch komplizierter wird es, wenn sich nicht nur solche Annahmen als Grundlage für die Konstruktion fiktionaler Welten nachweisen lassen, die in der realen Welt als faktisch richtig gelten, sondern auch solche, die sich als eindeutig falsche Annahmen über die reale Welt identifizieren lassen. Dies ist etwa der Fall, wenn Goethe der Ossian-Euphorie seiner Zeit (und im Speziellen der Begeisterung Herders) das Wort redend, Werther als Gefolgsmann Ossians – dieses „Homer des Nordens“ – konzipiert. Zwar wissen wir heute, dass Ossian keine reale Person, sondern fiktives Konstrukt des Schotten James Macpherson war, für Homer wird sich diese Existenzfrage jedoch kaum noch mit solcher Eindeutigkeit beantworten lassen; es ist aber gut möglich, dass beide Teil desselben Problems sind: Fiktionale Texte werden als Behauptung über Personen der realen Welt aufgefasst, obwohl es diese Personen in der realen Welt nie gegeben hat. Andererseits kann und wird faktisch unhinterfragt „Wahres“ in fiktionalen Texten ständig hinsichtlich seiner Eigenschaften verändert, ohne dass dies zu Verständnisschwierigkeiten der Texte oder zu Garungskonfusionen führte. Markus Staigers 2014 erschienener Roman Die Hoffnung ist ein Hundesohn etwa macht aus Altkanzler Helmut Kohl einen Mediendiktator und sich selbst damit zu einem Beitrag zur Counterfactual History, denn er stellt die Frage und buchstabiert aus, was hätte passieren können, wenn die DDR-Führungsspitze am 9. Oktober die Montagsdemonstrationen zusammengeschossen und infolgedessen Kohl den Fortbestand der innerdeutschen Grenze gesichert hätte.

Die Verhältnisbestimmung von Fakt und Fiktion kann also nicht nur – wie das Beispiel Gesner zeigt – die Rekonstruktion epistemischer Situationen, Wissensbestände und Annahmen über die Welt in der Vergangenheit anleiten, sondern auch alternative Konzepte der Gegenwart beschreiben helfen. Das ist insbesondere dann interessant, wenn sich ursprünglich ins Fiktionale gebettete Ideen ex post ‚bewahrheiten‘ (man möchte fast sagen, dass sie sich ‚faktualisieren‘). wie im Fall des Österreichers Hugo Bettauer, der 1922 einen Roman schreibt, dessen prophetischer Titel Die Stadt ohne Juden – ein Roman von übermorgen in vielerlei Hinsicht Ereignisse der folgenden Jahre vorwegnimmt: das „Gesetz zur Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich“, veranlasst durch den ‚geistvollen‘ Führer Dr. Karl Schwertfeger, die Deportationen der Juden per Zug oder Fußmarsch usw. Dass die in diesem Text entworfene fiktive Geschichte aufgrund ihrer Vorzeitigkeit in einem besonderen Verhältnis zur ‚echten‘ Geschichte steht, heißt jedoch nicht, dass damit der Text gleichsam seinen Status als fiktionaler Text verliert.

Anders scheint sich dies bei einer Teilmenge vermeintlich faktualer Texte zu verhalten, deren erzählte Geschichte sich später als fiktiv herausstellt und der ‚faktuale‘ Text somit seinen Status ändert. Gefälschte Holocaust-Biographien zeigen dies ebenso, wie sie aufs Deutlichste herausstellen, dass die Beurteilung von Fakt und Fiktion – bzw. Faktualität und Fiktionalität – in letzter Instanz immer vom Wissen des Lesers abhängig ist. Der für dieses Heft interviewte Journalist und Autor Dirk Gieselmann hat die hierbei potentiell vorhandene Verunsicherung auf die ebene der Gattung übertragen. Indem er die formalen Kerneigenschaften der Textsorte „Ticker“ – Kürze und Faktualität der Inhalte – disqualifiziert, eröffnet er seinem Schreiben eine Freiheit, die auf der irritation des Lesers und der spielerischen ‚Enttäuschung‘ verletzter Gattungserwartungen basiert. Literaturwissenschaftler*innen mag dieses Spiel sowie die in diesem Editorial nur skizzenhaft angesprochenen Probleme mit der Bestimmung des Fiktionalen bekannt sein, sie müssen aber wohl doch konzedieren, dass mit jedem Leser eben nicht nur neue Fiktionen zu erwarten sind, sondern auch neue Realitäten.