Heft 1/2009: Reportage – Editorial

Editorial
von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

Die Krise der Reportage ist schon vor langer Zeit beschworen worden. Dass »die Form der literarischen Reportage der Vergangenheit « angehöre, wurde – übrigens von einem Mitherausgeber dieses Heftes – bereits 1978 festgestellt, als anlässlich einer Ausgabe von Egon Erwin Kisch-Reportagen nach möglichen Erben Ausschau gehalten wurde. »Ihre Form scheint überholt«, lautete die Diagnose, »entweder zurückgefallen in den Tagesjournalismus oder von der Kunstliteratur spurlos aufgesogen.«

Von heute aus lässt sich sagen: Das allmähliche Verschwinden der Reportage als Zentral- und Kapitalformat des ebenso kritischen wie eigenwilligen Journalismus hat länger gedauert. Aber jetzt scheint es ernst zu werden. Das liegt zum einen daran, dass der Anzeigenmarkt aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise (einmal mehr) so eingebrochen ist, dass auch in jenen Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen, die sich noch mit Reportagen profiliert haben, immer weniger Platz zur Verfügung gestellt werden kann – wenn sie nicht gleich ganz eingestellt werden. Hier wird eingedampft, was in den vorerst letzten goldenen Jahren den Reportern und Reporterinnen als Spielwiese zur Verfügung gestanden hat. Bevorzugt werden jetzt die kleineren und knapperen Formen, die sich unaufwendiger und schneller recherchieren und schreiben lassen.

Parallel dazu hat sich der Kultwert der Reportage sukzessive verflüchtigt. Traditionell galt sie als Format für Grenzgänger, in den Journalismus und Literatur, Politik und ästhetischer Avantgardismus auf einen erlebnisstarken Nenner gebracht werden könne. Deshalb konnte die Reportage wie kein anderes Format mit utopischen Energien aufgeladen werden. Und der Reporter konnte als Kultfigur inszeniert werden, der von dieser Energie auf eine Weise angetrieben wird, die ihn schlichten Journalisten oder reinen Literaten haushoch überlegen machen sollte.

Kult sind längst andere Formate und andere Figuren. Für die Grenzüberschreitung sind mittlerweile jene zuständig, die sich zwischen Print und Online bewegen und entweder verschiedenen Medien miteinander verknüpfen oder mit neuesten Medien experimentieren. So hat das Web 2.0 mit dem Blogger eine ganz neue Kultfigur hervorgebracht, deren journalistische Arbeit sich über dynamische soziale und ästhetische Netzwerke definiert, indem sie diese Netzwerkarbeit explizit ausstellt. Dementsprechend wird hier nicht auf die eine große Erzählung gesetzt, auf die es die Reportage noch anlegt. Gleichwohl arbeiten Blogger mit der gleichen, wenn nicht sogar einer höheren Erlebnisintensität. Wer bloggt, ist mittendrin, statt nur dabei – und bietet anderen an, am Weiterschreiben teilzunehmen. Dementsprechend geht es in Blog-Texten um das Auffinden, das Produzieren, das Einstellen kleinerer Einheiten, die sich erst über die Verknüpfung mit anderen kleinen Einheiten zu einer volräufigen Erzählung fügen lassen, die ihre eigene Vorläufigkeit ausstellt. Der geschlossenen Form der Reportage wird damit das Prinzip des radikal offenen Erzählens entgegengesetzt.

Dass diese Form des Journalismus derzeit zwar gehypt, aber bald wieder von anderen Kulturformaten abgelöst wird, ist absehbar. Immerhin hat das sogenannte Twittern fast schon denselben Status erreicht. Nur ob die gute alte Reportage auf ihren prominenten Platz im journalistischen Portfolio zurückkehren wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Die große Zeit der Reportage scheint ein für allemal vorbei.

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Wenn das aber so ist, warum widmen wir dann gleich ein ganzes Heft von »Non Fiktion« der Reportage? Auf jeden Fall nicht, um zu beklagen, dass die guten alte Zeiten vorbei sind und nicht mehr wiederkommen. Viel interessante ist dagegen zu beobachten, was mit der Reportage passiert, wenn sie ihren alten Kultwert verliert und sich – vielleicht auch unbelastet von utopischen Energien – unbeschwerter weiterentwickeln kann. Wer Reportagen schreibt, darf experimentieren. Regeln, die es dabei einzuhalten gilt, werden nur noch an Journalistenschulen gelehrt, die Journalisten alter Schule ausbilden wollen. Statt sich an kanonischen Texten zu orientieren, geht es darum, die Möglichkeiten des journalistischen und literarischen Erzählens neu miteinander ins Spiel zu bringen. Dafür liefert das vorliegende Heft einige Exempel.

Wir drucken drei Reportagen von Benjamin von Stuckrad-Barre, der als Pop-Journalist die Formgrenzen erweitert hat. Zuletzt in dem von Christian Kracht herausgegebenen Zeitungsprojekt Der Freund, jetzt in der Berliner B.Z. Jan Fischer fragt sich in seinem Beitrag, was man davon zu halten hat, wenn sich Stuckrad-Barres Texte dabei so weit ans Boulevard anpassen, dass man sie gar nicht mehr davon unterscheiden kann.

Annett Gröschner, selbst Reporterin, zeichnet die Wege der ostdeutschen Kollegen, die nach der Wende weitergeschrieben haben und für die die Reportage nicht länger das wichtigste Bezugsformat bleiben konnte: »Einige von uns wichen ins Radio oder ins Fernsehen aus, andere gingen in ihre alten Berufe zurück oder fingen noch einmal an zu studieren, wurden Pressesprecher, Projektemacher oder Lebenskünstler.« Landolf Scherzer, Christoph Diekmann und Alexander Osang stellt Gröschner dagegen als drei exemplarische Autoren vor, die sich weiter auf das Reportageschreiben konzentrieren und sich dafür in der bundesrepublikanischen Peripherie eingerichtet haben. Um genau diese Peripherie, nur im die im Westen der Republik, kümmert sich auch Johannes Schneider – und stellt fest, wie sehr die Reportage, die für die Metropolen erfunden schien, zum Medium der Provinz geworden ist.

Die alten und die neuen Formen stellt Stephan Porombka nebeneinander. Am Beispiel der »Reportagen aus der Arbeitswelt« zeigt er, wie sehr sich dieses noch in den 60er und 70er Jahren so modische Format geändert hat. Die Arbeitswelt hat genau die Strukturen und Konturen verloren, an denen sich die Reporter einst noch orientieren konnten. Längst sind fremdartige Arbeitswelten entstanden, auf die man sich ganz neu einstellen muss und für die man deshalb auch ganz neue Reportageformen erfinden muss.

Guido Graf feiert mit der Reporterin und Erzählerin Marie-Luise Scherer noch einmal die große literarische Reportage, die sich mit ihrer skrupulösen »Silbenarbeit« den Anforderungen des Pressemarktes entzieht: »Sie nimmt sich Zeit. Denn vielleicht ist so eine Geschichte ja nie zu Ende. Es gibt immer Zwänge. Geld, Redaktionsschluss, ungeduldige Redakteure. Unwahrscheinlich eigentlich bei alldem, dass es zehn Jahre braucht, bis eine Geschichte dann für fertig erklärt wird. Doch bei Marie-Luise Scherer gehen die Uhren anders. Schon immer.« Graf führt vor, wie Scherer diese Zeit mit Texten und die Texte mit Zeit ausfüllt, um etwas entstehen zu lassen, was die alten Ansprüche and die Reportage hinter sich lässt, um Literatur zu sein, ohne aber ganz darin aufgehen zu wollen.

Der Reporter Andreas Altmann erklärt in einem Interview die Faszination des Zu-Fuß-Gehens, die nicht nur ihm, sondern auch eine ganze Reihe von Kollegen gepackt hat, die Gewaltmärsche durch ganz Europa unternehmen, um darüber zu schreiben. Und Mounia Meiborg stellt das Reportagemagazin Humanglobaler Zufall vor, das als Experiment gestartet wurde und nur ein Jahr lang erschienen ist. Es steht stellvertretend für eine neue prekäre Projektkultur im Journalismus, in der immer häufiger innovative Magazine auf den Markt gebracht werden, die bereits nach wenigen Ausgaben verschwinden. Den Reportagevarianten, die in diesem Magazin erscheinen, ist dieses Prekäre eingeschrieben – zugleich aber auch die Lust am Projektemachen, die um ihre eigenen Vorläufigkeit weiß.

Ulrike Baureithel berichtet aus der Werkstatt des Reporterin und Ariel Hauptmeier, Redakteur bei Geo, erzählt in einem Interview vom großen Erfolg des Reporter-Forums, das als Klassentreffen begonnen hat und mittlerweile materialreiche weitverzweigte Seiten im Netz unterhält, auf denen man sich einen Eindruck verschaffen kann, wie konzentriert die Kollegen untereinander über ihre konkrete Arbeit sprechen und wie weit sie dabei von der Formulierung großer Ansprüche entfernt sind.

Hauptmeier nennt die Reportage zwar immer noch die »Königsdisziplin des Journalismus«, doch sieht er die Lage ganz realistisch. Sicher sei im Moment nur, sagt er, »dass der Medienwandel auch die journalistischen Erzählformen umkrempeln wird. Wir beklagen das nicht, sondern beobachten neugierig, was sich da an Neuem regt.« Nicht besser hätten die Herausgeber des vorliegenden Heftes ihr Motto formulieren können. Und weil das so ist, empfehlen wir – neben, parallel oder auch vor der Lektüre der folgenden Ausätze – ein paar Streifzüge durch die Seiten von www. reporter-forum.de und von dort aus durch die virtuellen Welten, für die noch neue Reportageformen entwickelt werden müssen.

August 2009