Heft 1/2007: Sachen und Sachlichkeit – die 1920/30er Jahre – Editorial

Editorial
von David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

„Wir hatten dereinst eine Tatsachenliteratur. Das war doch einmal etwas anderes. Schluß, sagten diese Schriftsteller, keine Widerrede, aus und Schluß mit dem Dichten! Wir bringen Tatsachen. Wir bringen Ihnen das Interessanteste und Aktuellste aus allen Ländern der Erde. Klipp und klar. Tatsachen. [...] Die Wahrheit liegt nur bei den Tatsachen, lautete ihre Erfindung.“

– so ließ 1946 Ernst Kreuder einen der Protagonisten seines bald mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Romans Die Gesellschaft vom Dachboden höhnen:

„Ich frage euch: Was hat die Kunst, die Dichtung mit den sogenannten wissenschaftlichen Wahrheiten zu tun? Man könnte ebensogut von einer religiösen Wahrheit verlangen, daß sie eine Tatsache sei. Offenbarungen! Die Tatsachenliteratur, unterstützt durch Photographie, Statistik und Reportage, widmete sich mit Vorliebe dem sozialen Elend. Ihr werdet es nicht glauben, mit dem Elend verdienten diese Autoren enorme Gelder. Tatsachen ernähren eben ihren Mann.“[1]

Kreuder gab damit einer Aversion gegen Reportage und Tatsachenliteratur Ausdruck, die sich nach 1945 gleichermaßen gegen die schon wieder vor allem in den Illustrierten erfolgreichen Berichterstatter der Propagandakompanien richtete wie gegen eine amerikanische Linie der Literatur, markiert etwa durch den Namen Hemingways. Aber eben auch gegen jene Literatur der Neuen Sachlichkeit der Weimarer Republik mit ihrer quer durch alle Genres gehenden Emphase des Dokuments und der Tatsachen, deren Vertreter nicht eben selten ins Exil zu gehen gezwungen waren, aus dem die selbsterklärten inneren Emigranten wie Ernst Kreuder sie nicht unbedingt zurückwünschten.
Kreuders Kollege in der Mainzer Akademie für Sprache und Dichtung, Bernard von Brentano, der sich schon vor 1945 entschied, aus dem Schweizer Exil nach Deutschland zurückzukehren, hatte in der Weimarer Republik zu den radikalsten Verfechtern einer Tatsachenorientierung gehört. Er hatte in seinem bei Rowohlt erschienenen Buch Kapitalismus und schöne Literatur 1930 geradezu ultimativ die „Darstellung von Zuständen“ gefordert: „Wohin man blickt: man sieht nichts außer Zuständen. Also mögen die Schriftsteller von ihnen berichten. [...] Es wird uns gut tun.“  Und: „Vielleicht wird die Darstellung von Zuständen eine plumpe Kunstform sein. Es sei drum.“[2] Diese Position der Beschreibung von Zuständen und Berichterstattung aus der Wirklichkeit richtet sich damals allgemein und so auch bei von Brentano zunächst vor allem gegen den psychologischen Roman. Darüber hinaus aber auch gegen eine biographistische Sachliteratur von der Persönlichkeit her, für die in Deutschland vor allem die Bestseller von Emil Ludwig standen.
Zwei Aspekte scheinen besonders hervorhebenswert. Zum einen Brentanos pointierte Aussage: „Wieviel leichter ist mit einem Produzenten zu reden als mit einem Konsumenten. [...] Von diesem Konsumentenstandpunkt, der in Deutschland ganz allgemein ist, müssen wir fort. Dann erst beginnt unsere Literatur.“ woraus er für die Schriftsteller folgerte, sie seien im Dienste an der Produktion „nur die Beauftragten des Objekts“[3] – „Denn nicht die Menschen handeln, sondern die Dinge.“[4] Zum anderen seine Berufung auf den Kommunismus nicht als „Straßenbewegung“, sondern als „Wissenschaft“.[5] Unter Rekurs auf Brecht führt ihn das zur pathetischen Entscheidungsfrage, „ob man sich auf die Seite der Wissenschaft oder auf die Seite des bestehenden Staates stellen will.“[6] Hier wird zum einen die szientifistische Emphase deutlich, zum anderen die unter den linksradikalen Intellektuellen geläufige Gleichsetzung von Sozialwissenschaft mit Marxismus – qua „wissenschaftlichem Sozialismus“ - und darin eingeschlossen der Anspruch auf historisch-gesellschaftliche Objektivität. Das führt zu einem anderen Aspekt dieser Berichtliteratur. Sie zeigt sich fasziniert von Objekten – nun aber weniger im Sinne einer Konsumkultur, als Gegenstände des Besitzes und des Genusses, als vielmehr in Perspektive auf ihre Produktion: ihre Genese, der Prozess ihres Zustandekommens schienen die verdeckten Geheimnisse der kapitalistisch organisierten Produktionsverhältnisse offenbaren zu können – und damit Gesetzmäßigkeiten, deren Vorzeichen man ändern wollte.
Entsprechend begeistert angenommen wurde Sergej Tretjakovs Konzept einer „Biographie des Dings“ im Rahmen einer operativen, also gesellschaftlich eingreifenden und verändernden Literatur. Eben dies aber, die nicht sonderlich kritische Übernahme durch die sich ansonsten so kritisch gebenden Intellektuellen wie Bertolt Brecht, Bernard von Brentano, Egon Erwin Kisch, Ernst Ottwalt, Erik Reger, zeitweilig auch Alfred Döblin, hat die Abwehr und Kritik anderer Autoren hervorgerufen – aus sehr unterschiedlichen Gesichtswinkeln, so - von Georg Lukàcs einmal abgesehen – etwa Hermann Broch, Joseph Roth oder Gottfried Benn. Dieses umkämpfte und umstrittene Terrain erkunden die Beiträge dieses Heftes. Sie widmen sich der etablierten Höhenkammliteratur und den Nischenprodukten, den neuen und den alten Medien, dem fiktivem Dokumentarismus und den dokumentarischen Fiktionen. Im Versuch einer sowohl punktuellen Revision als auch Erweiterung des Feldes der Sachlichkeitsbegeisterung der Zwanziger Jahre wird deutlich, dass je näher man sie ansieht, desto befremdlicher die Tatsachen zurückblicken.
Da dies Feld sich als durchaus vielfältiger und vor allem weitläufiger erwiesen hat, als in den Grenzen dieses Heftes zu fassen wäre, möchten wir ganz besonders auf das Arbeitsblatt von Dirk van Laak („Energie von A bis Z. Anton Zischka erschließt die Welt“; eine erweiterte Fassung seines hier vorgelegten Textes, verfügbar unter: www.sachbuchforschung.de/html/literatur.html.)  hinweisen und auch auf den wiederum online verfügbaren Rezensionsteil.

Berlin und Hildesheim im Juni 2007
David Oels, Stephan Porombka und Erhard Schütz

 

Anmerkungen:
[1] Ernst Kreuder: Die Gesellschaft vom Dachboden. Erzählungen – Essays – Selbstaussagen, Berlin: Aufbau-Verlag, 1990, S. 81
[2] Bernard v. Brentano: Kapitalismus und Schöne Literatur, Berlin 1930, S. 25, 27.
[3] Ebd., S. 31f u. 49
[4] Ebd., S. 73
[5] Ebd., S. 76, vgl. a. 89
[6] Ebd., S. 91.